№1

Heute ist Gartentag!

Premiere - den sechs Frauen, die sich am Hauptportal zu den Marzahner Gärten der Welt einfinden, schenke ich vorsichtshalber gleich reinen Wein ein. Dass ich quasi mehrere bewährte Elemente des Einzelcoachings und aus dem Gruppen-Training in Verbindung mit Bewegung in (halbwegs) freier Wildbahn erstmals in Kombination an ihnen erprobe...

Es soll also um Werte gehen. Himmel – wer braucht die denn? Und wofür? Ist doch so schon alles kompliziert genug. Ja, eben – wir machen es jetzt ein bisschen einfacher. Wer seine Werte „auf dem Radar“ hat, weiß genau, was er braucht. Was er gut kann und was nicht so gut. Kann seine ganz persönlichen Gaben und Talente nutzen.

Bemerkenswerterweise entstehen dann schon auf den ersten Metern vorbei an blühenden Tulpenmeeren und neugierigen Stiefmütterchen spontan erste Klärungsgespräche, um bestimmte Werte so genau wie möglich zu definieren. Und es stellt sich dabei heraus, dass ein und derselbe Wert in seiner Begrifflichkeit gleichwohl unterschiedlich gedeutet wird.

Aha.

Da sind sie schon, die ersten zwischenmenschlichen Tretminen. Und mit einem Mal sind Geschichten zu hören, von einer Bergtour im Hochgebirge, von grenzwertigen beruflichen und familiären Erfahrungen, von Situationen, die einen an den Rand der eigenen Möglichkeiten bringen. Die sichtbar machen, was mir wirklich wichtig ist.

Erstaunlich, was im Geiste in Bewegung gerät, wenn der Körper sich bewegt, stellvertretend die verschlungenen Wege der inneren Landschaft beschreitet. Und das schon am Anfang der Tour. Das überrascht auch mich und ich bin gespannt, wie es weitergeht. Erst einmal: bergauf! Von oben hat man einfach immer noch den besten Überblick! Und den bringen wir auch in den Berg von Werten, die wir bis jetzt zusammengetragen haben. Da kommt was zusammen. Da wird erst einmal sortiert. Eigentlich auch ganz schön, so reich an Werten zu sein, so wertvoll; wer hätte das gedacht, vorhin unten am Haupttor. Die sammeln wir uns ein und stecken sie uns in die Brusttasche – ganz nah am Herzen. Und wenn wir sie brauchen: Et voilá!

Ist doch irgendwie ein gutes Gefühl. Mehr davon! In diesem Sinne sonnige Frühlings-Grüße, spk.

№2

Hilfe – Wenn ich noch ein einziges mal irgend etwas über, mit oder von Achtsamkeit hören muss, befürchte ich eine spontanallergische Reaktion. Oder wenigstens eine Schockstarre.

Die Menge der Ratgeber-Bücher zum Thema Achtsamkeit ist mittlerweile ins Unzählbare gestiegen.

„Achtsam durch den Tag“, „365 Wege zur Achtsamkeit“ oder „Achtsamkeit – Das kleine Übungsheft“ bis hin zu Malbüchern für Erwachsene um, man ahnt es bereits, Achtsamkeit zu entwickeln oder zu trainieren.

Was ist an diesem Wort, an dem Umstand oder Zustand, den es beschreibt, so verführerisch? Warum verkauft es sich so gut?

Vielleicht, weil das schmerzliche Vermissen ein umso größeres Bedürfnis danach generiert?

Nach etwas politisch Korrektem, moralisch Sauberen? Unangreifbar, grenzesotherisch und grenzenlos austauschbar? Sensationell belanglos. Aber als Gesprächsthema in Ermangelung von Alternativen immer noch tauglich?!?

Erstaunlich bei all dieser Schwammigkeit erscheint mir dabei der missionarische Eifer der Achtsamkeits-Jünger. Das grenzt schon fast an Wegelagerei.

Am liebsten würde ich „Achtsamkeit“ als Wort des Jahres anmelden. Ist aber schon vergeben. An „postfaktisch“. Das Unwort für 2016 ist leider auch schon weg; an „Gutmensch“.

Reiht sich aber dennoch alles gut aneinander: Gutmensch übt sich in postfaktischer Achtsamkeit.

Hoffentlich läuft mir dabei der nächste dieser Gattung nicht so schnell über den Weg. Dann doch lieber so ein klischee-typischer Muffel-Berliner. Wie einer der allseits gefürchteten Busfahrer. Da weiß man wenigstens, was man hat.

In diesem Sinne hoffnungsfrohe Grüße und Wünsche für ein gutes Jahr 2017, spk.

№3

Nieder mit der Diktatur der Ewig-zu-kurz-Gekommenen!!!

Sie drängeln, schubsen und bedienen sich, wo immer sie glauben, es stünde ihnen zu. Sie neiden, vermiesen und verpesten die Luft, wo sie denken, das Schicksal sei mit ihnen ganz besonders streng. Sie werden immer erst für sich selbst aktiv, wenn jemand anderer an ihnen vorbei zu ziehen droht. Bis dahin wussten sie gar nichts von ihren Bedürfnissen. Aber just im Moment der unverdienten Erkenntnis geben sie Vollgas, notfalls über Leichen, um schnell noch als Erster am Ziel zu sein.

Um einmal mehr den Rücklichtern der abgefahrenen Züge hinterher zu schauen.

Weiß Gott eine Geißel der Menschheit. Nicht, dass sie davon etwa zu wenig hätte…

Gegenentwurf. Erster Versuch - David Foster Wallace, amerikanischer Schriftsteller, in einer Rede vor College-Absolventen*:

„Schwimmen zwei junge Fische daher und treffen auf einen älteren Fisch, der in die andere Richtung schwimmt, ihnen zunickt und fragt: >Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?< Und die beiden jungen Fische schwimmen noch ein bisschen , bis der eine schließlich zum anderen rüber sieht und sagt: >Was zur Hölle ist Wasser?<

Wasser, das sind die Standardeinstellungen, default settings, unseres Lebens und unseres Empfindens. Das ist der Glaube: Ich bin die Mitte der Welt. Alles Geschehene dreht sich um mich und meine Ziele. Wenn ich müde und abgespannt von der Arbeit nach Hause fahren will, sind mir die anderen im Weg; kein Gedanke daran, auch die anderen könnten müde und abgespannt sein.

Wenn ich dann noch im Supermarkt einkaufen will, nerven mich die nach Geld kramenden alten Leute, die herum tollenden Kinder, die vor dem Milchregal grübelnden Frauen, die mir alle den Weg versperren; kein Gedanke daran, dass die Alten eben alt sind, die Kinder eben Kinder und die Grüblerinnen jedes Recht auf Grübeln haben.

Wenn ich an der Kasse bezahlen will, kotzt mich das Gesicht der sich nicht freundlich genug verhaltenden Kassiererin an; kein Gedanke, die Frau sei doch auch am Ende eines langen Tages voller unfreundlicher Gesichter, schmutziger Geldscheine und auf dem Förderband platzender Milchtüten.

Kein Gedanke, kein Gedanke – nur: ich, ich, ich.

Standardeinstellungen: die Art, wie wir die Welt heute quasi automatisch sehen und erleben, ohne weiter nach zu denken, die Art Glaube, in die man allmählich hinein schlittert, Tag für Tag, während man immer selektiver wahrnimmt und immer selektivere Wertmaßstäbe ansetzt, ohne dass es einem bewusst wäre. Und die Welt wird einen nicht davon abhalten, mit seiner Standardeinstellung zu operieren, denn die Welt der Männer und des Geldes und der Macht summt mit dem Treibstoff der Angst und Geringschätzung und Frustration und Begierde und Verehrung des Selbst ganz fein vor sich hin.“ Und so können wir, weiter Wallace, „…die Herren unserer eigenen winzigen, schädelgroßen Königreiche sein, allein im Zentrum aller Schöpfung.“

Und er stellt dem gegenüber: „Aufmerksamkeit und Bewusstheit und Disziplin und Bemühen und die Fähigkeit, sich anderen Menschen wahrhaftig zu zu wenden und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, jeden Tag, auf Myriaden von Arten, die trivial, klein und unsexy sind. Das ist wirkliche Freiheit…ein Bewusstsein für das, was so wirklich und wesentlich ist, so unsichtbar, dass wir es uns wieder und wieder ins Gedächtnis rufen müssen: >Das ist Wasser.<

>Das ist Wasser<.“

Da schwimmt ein Gedanke langsam an die Oberfläche … 80 % des Menschen sind Wasser …

Na dann: hoch das Glas und Prost! auf diesen Tag.

In diesem Sinne durstige Grüße, spk.

*aus: Hacke, Axel | Di Lorenzo, Giovanni, Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist – eine Suche. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2012.

№4

In Krakau lebte vor Zeiten ein armer Jude, der hieß Isaak. Dem träumte eines Nachts, er solle nach Prag wandern und dort, an der Brücke über die Moldau, solle er graben; er würde dann einen Schatz finden. Weil ihm das dreimal hintereinander träumte, packte er das Bündel seiner wenigen Habseligkeiten und wanderte von Krakau nach Prag.

Dort angekommen, an der berühmten Brücke über die Moldau mit ihren Statuen links und rechts und der Burg und dem Veitsturm auf der anderen Seite, sah er sofort, dass er doch hier unmöglich graben könne. Kaufleute zogen mit Pferde-, Bauern mit Eselsgespannen, Frauen mit ihren Einkäufen und Krügen auf dem Kopf über die Brücke. Überall herrschte emsiges Treiben und auf beiden Seiten des Stromes standen Soldaten, um all diesen Verkehr zu überwachen und die Brücke zu schützen. Was werden die Leute sagen, fragte sich Isaak, wenn ich hier zu graben anfange?

Weil er nun aber den weiten Weg von Krakau nach Prag gewandert war, kam er jeden Tag an die Brücke, stand dort herum und überlegte, gesetzt den Fall, ich könnte hier graben, wo würde ich das denn tun, wo könnte mein Schatz liegen? Allmählich fiel das der Wache auf. Bald war Isaak eingestuft als verdächtiges Subjekt, als Terrorist des 17. Jahrhunderts, als einer, der irgendetwas ausspionierte, vielleicht gar einen Anschlag auf die Brücke vorbereiten wollte. Schließlich ging der Hauptmann der Wache zu Isaak und fuhr ihn an, was er sich hier herum treibe. Sie würden ihn schon tagelang beobachten, er solle sich gefälligst weg scheren.

Darauf erzählte Isaak seinen Traum. Der Hauptmann lachte, wo kämen wir hin, wenn wir Träumen trauen würden? Ihm zum Beispiel träume nun schon wochenlang, er solle nach Krakau wandern und dort unter dem Ofen eines armen Juden graben, dann würde er einen Schatz finden. Isaak verneigte sich, bedankte sich höflich, wanderte zurück nach Krakau, nahm die Steine unter seinem Ofen heraus und grub dort. Und?! Richtig, da lag der Schatz!

Später pflegte Isaak der Geschichte, wenn er sie erzählte, an zu fügen: Grab´ nicht woanders, grab´ bei dir!

Besser kann man wohl nicht beschreiben, was ein gutes Coaching ausmacht.

In diesem Sinne tiefschürfende Frühlingsgrüße, spk.

№5

Es ist kalt. Schnee hat sich mit seiner Unschuld auf die Gemüter gelegt. Es ist die Zeit, die Wurzeln zusammen zu ziehen, sich zu sammeln. Sich unter der Erde zusammen zu ziehen. Wie die Bäume es in diesen Tagen tun.

Sammeln, sortieren, aussortieren, resümieren, träumen, wünschen, hoffen. Antworten suchen, Fragen finden. Hoffentlich ausreichend entfernt von der saisonal bedingten Neigung, Vorsätzlichkeit zu produzieren. Weit genug entfernt von der Oberfläche; tief genug im Erdreich. Die kräftigeren Hauptwurzelstränge noch mehr stärken. Zarte neue Seitenwurzeln prüfen. Sind sie schon stark genug, sich fest im Boden zu verankern? Stabil genug für Stürme, flexibel genug, sich neue Bahnen durch den dunklen Grund zu schaffen?

Jetzt ist auch Erntezeit; zumindest für das Holz.

„Am Ofen | Sonntag und Schneetag und der Holzfäller sitzt am Ofen…Der Holzfäller sieht seine Filzstiefel an. Sie stehen geschmiert am Kachelofen. Sie halten warm, doch die Sohlen sind glatt. Mit glatten Sohlen springt es sich schlecht, wenn ein Baum nicht gut fällt, wenn man flüchten muss; mit glatten Sohlen steht es sich schlecht, wenn man sich stemmen und axten muss…Der Holzfäller sieht seine Filzstiefel an: Wer macht Entwürfe für Holzhauerstiefel? Man müsste sie mit Profilsohlen planen.“ Strittmatter, Erwin im „Schulzenhofer Kramkalender“.

Fragen suchen, Antworten finden. Was soll bleiben, was darf gehen, was könnte noch kommen.

Betrachtet man den Habitus von Bäumen im Längsschnitt, zeigt sich auffallend oft eine gewisse Symmetrie zwischen oben und unten: Die Krone ist meist genauso weit ausladend, wie die Wurzeln es sind. Wobei Letztere die Voraussetzung für die Entwicklung der Ersten zu sein scheinen. Und dann ist irgendwann Erntezeit, zumindest für das Holz. In aller Unschuld. Mit oder ohne Schnee.

In diesem Sinne ganz herrlich verschneite Wintergrüße, spk.

№6

„Das verstehe ich gut!“, „Kann ich verstehen.“, oder einfach nur „Verstehe.“

Bloß nicht! Bemerkungen, die früher für mich ein gewisses Entspannungspotenzial enthielten, alarmieren mich inzwischen. Je nach Situation von Zartrosa bis Tiefmagenta. Also die Alarmleuchten.

Die sind es, die anfangen, lebhaft zu illuminieren, wenn im Laufe eines Gespräches so etwas wie Einverständnis verbalisiert wird. Insbesondere, wenn ich irgend so etwas in dieser Art von mir gebe.

„Die Geschichte der Kommunikation ist eine Geschichte voller Missverständnisse.“ Blöder Satz, leider wahr.

Wie oft passiert es, dass zwei oder mehr Personen, in lebhaftes Gespräch vertieft, Verständnis signalisieren und tatsächlich auch glauben, dass sie genau verstehen, wovon der andere gerade spricht. Selbstverständlich auch, dass das Gegenüber ganz genau weiß, was ich meine, siehe oben.

Und dann, später oder vielleicht schon so gegen Ende des Gesprächs, oder Stunden, Tage, Wochen, oder aber auch Jahre später, die Erkenntnis, wie etwas wirklich gemeint ist oder, - ich weiß, dass ich nichts weiß –, gemeint sein könnte. Bin ich denn nun, ich armer Tor, doch wieder nur so klug als wie zuvor?!?

Mitnichten, möglicherweise. Die bereits erwähnten Alarmleuchten, die, wenn sie gerade nichts zu tun haben, noch einer bescheidenen Nebentätigkeit als Licht der Erkenntnis und des Verstehens nachgehen, warfen ihr Licht auch auf folgendes:

Erstens das erworbene Wissen, dass Sprache zunächst als Abstraktion und Worte als auch Gesten im Sinne von Zeichen zu verstehen und kulturell konnotiert sind. Kultur geprägt von Familie, Schule, Arbeit, Gesellschaft und den vielen anderen Gruppen, in denen man so unterwegs ist.

Zweitens, sowohl angelesen als auch beobachtet, dass jeder für sich wiederum im Laufe seines Lebens so etwas wie eine interne Mikrokultur, u.a. auch für seinen Sprachgebrauch, entwickelt. Auch geprägt von den genannten Gruppen, aber eben auch ganz für sich, erst einmal intern stimmig. Beziehungsweise: für sich verständlich.

Genau da liegt der kommunikative Hase im Verständnis-Pfeffer, wenn man so will. Von dem im Gespräch Gehörten kann überhaupt nur andocken, wofür es eine Docking-Station gibt. Alles andere fällt einfach hinten runter, wird schlicht überhört.

Seitdem mir klar ist, dass mein Verständnis zuvörderst etwas mit mir und meinen Möglichkeiten zu tun hat, werfe ich öfter mal, ganz unauffällig und vorsichtig, einen Blick auf die Beleuchtungseinrichtungen in meiner unmittelbaren Umgebung: zartrosa oder doch schon magenta?

Kann man doch irgendwie verstehen, oder?

In diesem Sinne ganz und gar verständige Grüße, spk.

№7

Hausaufgaben, Deutsch, fünfte Klasse: zuerst sollen aus Adjektiven Substantive gebildet und diese dann in möglichst sinnvollen Sätzen verwendet werden.

Der Zehnjährige überlegt, schreibt dann `gut – Das Gute, besonders – Das Besondere, schön – das Schöne…´ u.s.w.

Jetzt die Sätze. Er überlegt eine Weile und diktiert sich dann selbst: „Das Schöne an einem Menschen ist nicht immer gleich zu sehen.“ Und fragt mich dann: „Oder wie kann ich das schreiben, dass manche Menschen eigentlich von innen schön sind, aber von außen ziemlich, naja, häßlich…? … also das machen die ja nicht absichtlich.“

Besser könne ich das auch nicht ausdrücken, sage ich ihm. Das Besondere ist meist ganz schlicht.

In diesem Sinne besonders schöne Frühlingsgrüße, spk.

№8

„Bei Euch Deutschen muss immer alles richtig oder falsch sein“, sagt mir die Freundin, die an einem ganz anderen Flecken dieser Welt geboren und aufgewachsen ist. So mitten im Gespräch.

Stimmt das wirklich? Wie kommt sie darauf? Frage ich mich. Dann frage ich sie. Das Gleiche. Und es folgt ein lebhafter Dialog zum Thema.

Das Gespräch liegt schon wieder ein paar Tage zurück, die Frage aber beschäftigt mich noch immer. Woher könnte das kommen, dass es in der Kultur, der ich entstamme, so wichtig ist, wenigstens zu wissen, was richtig und falsch ist. So wichtig, dass die Gerichte in letzter Instanz und nahezu inflationär darüber zu entscheiden haben, dass sie seit Jahrzehnten ununterbrochen überlastet sind.

Wer legt das schließlich fest? Der Gesetzgeber? Die Medien? Mutter, Vater, Gott? Wer wacht darüber? Was hat das mit uns, der gesamten Gesellschaft zu tun? Mit mir? Was sagt es über uns? Ist es vielleicht sogar grundsätzlich kulturbildend, eine fundamentale Säule quasi?

Wenn das schon so augenfällig ist, dass es von außen als hervorstechendes Kennzeichen bemerkt wird, in welchen Spiegel blicken wir dann? Gefällt uns das Bild, das wir sehen?Oder: wollen wir es überhaupt sehen? Das Bild existiert blöderweise unabhängig davon, ob wir es sehen oder nicht. So ist das eben mit den Spiegeln.

Dann frage ich mich unwillkürlich: was ist mit all den potenziellen Spiegeln, die in den Flüchtlingsheimen und Notunterkünften dieses Landes, dieser Stadt, sehnlichst darauf warten, die Erlaubnis zum Bleiben zu erhalten? Tun wir uns deshalb so schwer damit, weil uns manche Bilder nicht ins Konzept passen? Was würden wir uns vergeben?

„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“ Canetti war´s, der das sagte.

Müssten wir vielleicht eine uns nur zu wohl vertraute Furcht aufgeben, wenn wir den Fremden im Spiegel sähen? Vielleicht könnten wir ja auch hinter dem was „richtig“, das, was wichtig ist, erkennen. Also unsere Werte. Im Spiegel des anderen.

Was würden wir gewinnen? Vielleicht ein wenig mehr Furchtlosigkeit, so etwas wie Selbsterkenntnis, womöglich noch Lebensfreude … ja, das wäre was!

In diesem Sinne furchtlose Wintergrüße, spk.

№9

„Arbeit ist sichtbare Liebe.“

Verflixt, als ich das vor ein paar Tagen irgendwo las, wollte ich mir unbedingt merken, von wem das ist. Hat nicht geklappt. Oder fällt mir wahrscheinlich wieder ein, wenn ich mich einmal mehr darüber wundere, dass der BVG-Bus schon wieder vor seinen Fahrgästen geflüchtet ist. Es könnten ja schließlich zu viele werden und dem gilt es vor zu beugen. Also in einem Moment , wenn mir die Betrachtung zum Thema überhaupt nicht weiter hilft. Oder sie nicht mehr brauche.

Der Satz bleibt liegt auf dem Tisch. Fängt an zu klingen. Wirft wiederum Fragen auf.

Was machen eigentlich die, die keine Arbeit haben, mit ihrer Liebe? Wohin damit? Jene, die Arbeit haben, veräußern sie ihre Liebe? Ist das schon Prostitution?

Vor allen Fragen meldet sich in meinem Inneren zu allererst so etwas wie unbedingte, spontane Zustimmung. Arbeit ist sichtbare Liebe.

Schon kommen die nächsten Fragen. Wie viele Menschen vermögen es wohl, ihre Arbeit liebevoll zu tun? Wie würde es in der Stadt, in der Welt aussehen, wenn es noch mehr oder einfach Alle wären?!? Würden sich Menschen gegen ungeliebte Arbeit oder ebensolche Arbeitsbedingungen wehren? Gegen lieblose Umgangsformen an ihrem Arbeitsplatz? Was hat der Einzelne in seiner Hand, wo muss man sich zusammentun, damit Arbeit wieder liebenswert und nicht länger als lästige Pflicht zum Broterwerb betrachtet wird? Wäre das viel besprochene bedingungslose Grundeinkommen ein Schritt dorthin?

Arbeit ist Dienst an der Menschheit. Noch so ein Spruch. Könnte ja durchaus etwas mit der Liebe von eben zu tun haben. Darüber muss ich allerdings erst mal in Ruhe meditieren. Und mache mich jetzt lieber wieder an die Arbeit.

In diesem Sinne geschäftig-liebenswürdige Wintergrüße, spk.

№10

Und…?!? - schon jede Menge gute Vorsätze für das neue Jahr gefasst?

Was mir persönlich an dieser kollektiv-kulturellen, jahresendbedingten Vorsatzfasserei irgendwie unerquicklich erscheint, ist der Umstand, dass die Gefahr des Scheiterns mit Anzahl und Höhe der Ansprüche an sich selbst direkt proportional ansteigt. So zumindest meine Beobachtung bislang. Abgesehen davon erscheint mir dieses forcierte Bilanzieren wie mentalökonomische Wegelagerei.

Meine Alternative, präventiv und kurativ bewährt: kleinteilig arbeiten. Hat sich schon bei den allergrößten Aufgaben bewährt. Rom wurde ja schließlich auch nicht u.s.w.… und Berlin erst recht nicht an einem Tag erbaut. Der große Plan ist wichtig und überhaupt auch erst die Voraussetzung. Um anfangen zu können, muss ich allerdings den nächsten Schritt kennen.

Heißt konkret: von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Und für den großen, umfassenderen Zeitraum eher Wünsche und Ziele formulieren, die flexibel genug sind für die Dynamik des Lebens.

Also eher nach dem Prinzip: lasse jeden Morgen besser sein als den Abend zuvor. Das erscheint mir überschaubar. Realisierbar. Korrigierbar. Und vor allem: Ermutigend.

Das große Ganze kann man dabei trotzdem gut im Blick behalten. Nur eben ohne sich zu sehr schon vorher fest zu legen. Um dem Leben, dem Schicksal, dem Universum, Gott oder wie immer man diese von ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten getragene Kraft nennen mag, Raum zur Entfaltung zu geben.

Und ehrlich: Manches im Rückblick auf das eigene Leben war doch ebenso unvorhersehbar, wie unplanbar und doch, aus heutiger Sicht, ganz wesentlich für das weitere Fortkommen. Und um den Faden analog weiter zu spinnen: was wartet dann noch alles auf mich, auf uns, auf alle?

In diesem Sinne heute schon freudig-erwartungsvoll-optimistische Neujahrsgrüße, spk.

№11

25 Jahre sind eine lange Zeit. Und doch schnell herum. 15 Kilometer Mauerweg mit Lichtballons bestückt. Und hunderte, vielleicht Tausende auf der Strecke unterwegs. Gedränge wie im Hochsommer auf der Strandpromenade irgendeines Ostseebades.

Ganze Familien kommen mir entgegen und größere wie kleinere Menschen-Gruppen. Nicht selten bleiben im Vorbeigehen Wort- und Satzfragmente an mir hängen. Fast immer erzählt gerade jemand, wie er den 9. November des Jahres 1989 verbracht hat. Wo er gerade war, was sie gerade gemacht hat. Und alle sind sich einig: So etwas gibt es kein zweites Mal, damals wie heute.

Ja, und natürlich berichten auch wir uns, die Freundinnen, die mit mir unterwegs sind und ich, was damals gerade bei uns los war. Was wir noch ganz genau wissen. Und was überhaupt nicht mehr.

Wahrhaftig ein echter Gedenktag. Zum Gedenken. Zum Nachdenken. Überhaupt zum Denken. Und zum Erzählen und Berichten. Ein Ereignis, das verbindet, damals wie heute. Mehr davon!

Bin sehr gespannt, was in den vor uns liegenden 25 Jahren kommen wird.

In diesem Sinne ein wenig euphorische Herbstgrüße, spk.

№12

Heute Morgen in der U-Bahn. Wie immer viele Menschen, stickige Luft, müde Gesichter. Tür auf, Tür zu. Einsteigen bitte, Zurückbleiben bitte, hoffentlich komm ich pünktlich an.

Und dann wieder einer dieser U-Bahn-Musikanten, den ich zu spät bemerke. Zu spät, um noch schnell in den Nachbarwaggon zu fliehen. Also in Duldsamkeit ertragen, wird ja nicht lange dauern. Es gibt den fünften der Immer-Wieder-Gern-Gehört-Ungarischen-Tänze in der Metro-Schnellfidel-Version. Gibt Schlimmeres. Zwölf Takte, die dafür ausreichen sollten, dass auch der letzte Fahrgast die Melodie erkennt und seine Börse rechtzeitig heraus kramt.

Von dem Saiten-Krawall offenbar geweckt, erhebt sich am anderen Ende des Waggons eine recht abgerissene, männliche Gestalt und beginnt, die Kurzreisenden auf Kleingeld an zu sprechen, welches er sofort in den tiefen Taschen seiner ausgebeulten Cordhose verschwinden lässt.

Was wird das? Gräbt der eine arme Schlucker dem anderen jetzt das Wasser ab? Hat sich der eine womöglich in das Revier des anderen begeben, um dort zu wildern?!? Provokation? Landnahme? Überfall?

Was wohl passiert, wenn die beiden sich in der Waggenmitte treffen?

Ich versuche möglichst unauffällig beide im Auge zu behalten und so diskret wie möglich zu beobachten. Gleich.

Jetzt stehen sie sich gegenüber. Der U-Bahn-Geiger drängt durch den schmalen Gang. Der wird ihm von dem Cordhosensammler versperrt. Der steht auf wackeligen Beinen und versucht, die Münzen aus seinen Taschen an das Tageslicht zu befördern, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Ein schwieriges Unterfangen, das einige Zeit in Anspruch nimmt. Der Geigenmann wird ungeduldig. Der Cordhosenmann bleibt unbeirrbar. Jetzt.

Jetzt streckt er die volle Hand dem Musiker entgegen. „Da!“ und streut ihm das Metall in den Pappbecher, der sofort voll ist.

Der Geigenmann traut seinen Augen nicht. Der Cordhosenmann schließt seine Augen auf dem nächsten freien Platz. Tür auf, Tür zu. Die Massen, die nun herein strömen, haben von alledem nicht die leiseste Ahnung. Der Musiker ist schon im nächsten Wagen verschwunden, während der Sammler wieder schläft.

In diesem Sinne gleichermaßen aufgeweckte wie nachdenkliche Herbstgrüße, spk.

№13

Da! Beinahe wäre es wieder passiert. Um ein Haar auf die zahlreich über den Weg rollenden Kastanien getreten und, schwups!, den Bürgersteig im Segelflug genommen.

Und wie in jedem Jahr kann ich abermals nicht widerstehen. Ich beuge mich herunter, um mir eine dieser wunderbar glänzenden und gemaserten Kugeln zu beschauen, um sie dann in meiner Manteltasche verschwinden zu lassen.

Und wie jedes Jahr denke ich: So eine kleine Kastanie! So rund, glänzend und wunderbar gemasert. Steckt schon alles drin; das komplette Konzept für einen ganzen Baum. Unglaublich. Der vollständige Plan für Äste, Blätter, Wurzeln. Was wann geschehen und in welche Richtung er wachsen soll. Wie viel Platz er für Vogelnester bieten und wie viel Schatten er spenden wird. Welche Farbe die Blüten haben werden und wann seine Früchte wiederum zur Reife gelangen. Der Kreislauf eines ganzen Systems verborgen unter einer dicken grünen Schale, die mir wehrhaft ihre Stacheln entgegen reckt.

Und das in jeder der Kastanien, die dieser Tage durch die Stadt rollen. Was für ein Reichtum, der da buchstäblich auf der Straße liegt! Da stecke ich mir gleich noch eine ein… Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, was ich damit anfange. Ein Bäumchen ziehen im Blumentopf vielleicht? Und später? Dem Förster meines Vertrauens vererben? Mal sehen…

Und dann frage ich mich, welche „Kastanien“ bei mir in diesem sich langsam dem Ende zuneigenden Jahr es wert wären, in guten Boden gesteckt und gehegt zu werden…mal sehen.

In diesem Sinne, rundherum bereicherte Grüße, spk.

№14

„Ja, man merkt es ganz deutlich, der Herbst ist jetzt da, aaaach-jaaah.“ - musste ich heute schon das dritte Mal mit anhören…

Tatsächlich? Woran denn merken? Hab ich was verpasst? Schon die Bio-Gans für das Weihnachtsmahl bestellt? Und den Rotkohl? Der Winter ist dann wohl nicht mehr weit.

Gerade mal hat der Altweiber-Sommer begonnen. Spinnfäden, die hauchfein an Hecken entlang schweben, sich auf den Haaren niederlassen oder an den Hosenbeinen kleben bleiben.

Die früher dafür sorgten, dass wir als Kinder, jedes Mal wenn wir eines der Gespinste ins Gesicht bekamen, die Gelegenheit nutzten, laut auf zu kreischen, wie die Flöhe zu springen und uns gegenseitig für unsere dummen Gesichter aus zu lachen. Unbeschwert und übermütig. Was unsere Großmutter regelmäßig für die Ermahnung zur Mäßigung nutzte.

Während die Brombeeren so riesig und reif an den Büschen hingen, dass sie entweder bei der leisesten Erschütterung zu Boden fielen oder aber bereits der alkoholischen Gärung anheimfielen.

Ach Quatsch! Jetzt ist Sommer. Im Winter werden wir noch genug Zeit für Vernunft haben!

Und heute? Makrobiotisch mit Bio-Dauer-Abo. Rot-Weiß-gestreiftes Absperrband für die kleine Kamille auf der Baumscheibe vor dem Haus; was würde die eigentlich dazu sagen? Aufgeklärt und dauerentschlackt, ein bisschen allergisch auf alles, aber ansonsten zufrieden mit sich und der Welt.

Und keinen blassen Schimmer von Jahreszeiten. Wie sich die Natur im Jahreslauf und auch während der Jahreszeit verändert. Der Himmel. Die Luft. Das Licht. Dass die Hauptstadt voller, nicht nur menschlichem, Leben ist; wie die Füchse vom Südkreuz oder die Kaninchen, die hinter der Amerika-Gedenk-Bibliothek hausen. Oder der kleine Tomatenurwald in den Prinzessinnengärten am Moritzplatz. Bienen auf den Dächern und Nager in der U-Bahn.

Ist das der Preis, den man für ein Leben in dieser Stadt zahlt? Ist das der Grund für die grassierende Bio-Hysterie? Quasi als Ausgleich für Hyper-Urbanität?

Ach, Großmütterchen, gern würde ich jetzt Deinen Ruf nach Mäßigung hören …

Ich gehe jetzt mal ein Ründchen an der mehr oder weniger frischen Berliner Luft – vielleicht erwische ich noch ein paar Brombeeren auf dem Radweg.

Und wenn ich Glück habe, wehen mir ein paar der feinen Spinnweben ins Gesicht. Genau - denn jetzt ist immer noch Sommer!

In diesem Sinne, versponnene Grüße, spk.

№15

Anfang des Monats, so war im Deutschlandradio zu hören, hat in Mainz das Deutsche Resilienz-Zentrum eröffnet. Das erste seiner Art überhaupt in der Bundesrepublik.

Resilienz bedeutet, kurz gesagt, so viel wie Widerstandsfähigkeit gegenüber persönlichen Krisen durch Rückgriff auf genetische wie soziale Ressourcen. Der Begriff findet übrigens auch analog Anwendung in Wirtschaft und Umwelt.

Das besagte Zentrum, das der Uni Mainz zugehört, will untersuchen, wodurch Menschen so unterschiedlich stressresistent werden. Will herausfinden, wie denen, die von entsprechenden Erlebnissen bereits traumatisiert sind, besser therapeutisch zu helfen wäre und im Idealfall Präventivstrategien entwickeln. Beizeiten die Empfindsamen ausfindig machen, um Ihre Resilienz für den next worst case zu trainieren.

Begründet wird dies einerseits mit den immer höher steigenden Zahlen an psychisch bedingtem Krankheits-/Betriebsausfall. Volkswirtschaftlich. Betriebswirtschaftlich.

Und andererseits, im Rahmen des psychotherapeutischen Interesses, eventuell mit der Aussicht auf die Entwicklung eines Medikaments zur Erhöhung der Resilienz. Pharmakologisch. Unternehmerisch.

Mir wird ein wenig mulmig.

Und hoffe, nur einem Missverständnis aufzusitzen. Forschung, um Menschen leistungsfähiger, dickfälliger zu machen?!? Bin ich womöglich zu wenig resilient gegenüber Radiomeldungen?

Und wenn ich mir was wünschen dürfte, dann aber: –

Wünsche ich mir in diesem Falle ganz besonders die im Grundgesetz verankerte freie Forschung.

Wünsche ich mir wahrhaftiges Lernen darüber, was uns wirklich stark macht.

Und unabhängig.

Und trotzdem empfindsam genug, um frei entscheiden zu können, wie viel Stress wir uns aussetzen wollen.

Das wünschte ich mir, wenn ich dürfte.

In diesem Sinne verwunschene Spätsommer-Grüße, spk.

№16

Am Wochenende breitete sich die Nachricht in der Stadt wie ein Lauffeuer aus, es gäbe mal wieder eine Performance. Also Kunst oder sowas in der Art. Auf dem Dach der Neuen Nationalgalerie.

The Proliferation oft the sun. Lichtperformance von Otto Piene.

Nie vorher gehört.

Auf dem Potsdamer Platz fanden sich schon am frühen Abend viele Neugierige, Schaulustige und sonst irgendwie Interessierte ein. Daran mochte vielleicht eine zweite Nachricht schuld sein: Dass der bereits hoch betagte Künstler nach Einrichtung und Probelauf am Vorabend auf dem Weg in sein Hotel im Taxi entschlafen sei.

Nun wollten also alle sehen, was er uns als Letztes hinterlassen hat. Tausende beobachteten geduldig und ungeduldig, wie die luftdurchströmten Skulpturen immer wieder langsam gen Himmel stiegen, vom Wind abtrieben und behutsam wieder zurück geholt wurden.

Aufsteigen – Abtreiben – Einholen – Landen.

Immer wieder. Stunde um Stunde.

Während die Menge gebannt das Steigen und Treiben beobachtete, schoß ein Radfahrer quer durch sie hindurch, streckte die Arme gen Himmel und jubelte: „Otto Piene, Otto Piene, Otto – yeah yeah yeah.“ Die Köpfe der Menschen folgten, Lachen breitete sich wie eine Bugwelle zu beiden Seiten des Fahrrades aus. Das wiederum war schon längst weiter. Die Heiterkeit blieb. Während oben auf dem Dach weiter an der Ausbreitung der Sonne gearbeitet wurde.

Der Luftraum sei der einzige, der dem Menschen fast unbegrenzte Freiheit biete, so O.P. –

More sky. Licht. Lachen.

Kann man der Welt etwas Schöneres vermachen? Danke, Otto!
In diesem Sinne himmlische Sommer-Grüße, spk.

№17

Heute ist Website-Tag: endlich ist es soweit! Die Website ist frisch und fertig und nun hochgeladen - viel Spass beim Anschauen!
Beschwingte Sommer-Grüße, spk.